Der adrette „Hitlerjunge“

Da kommt er, der Zeuge Mike Sawallich. Hoch aufgeschossen, schlank, (zufällig) braune Haare, freundlich-akkurater Scheitel, aber nicht zu streng, ohne Undercut, keine Tattoos bis zu den Ohren, warmer Baumwollpullover, sauberer weißer Rolli drunter, hell-beige Cordhose. 40 Jahre, etwas unsicher, der nette Junge von nebenan? So sitzt er da im Zeugenstand des Lübcke-Untersuchungsausschusses am Mittwoch den 15.12.2021. Aber wehe er macht den Mund auf. Legendär ist mittlerweile sein Soli-Spruch zu Stephan Ernst: „Ich stehe in Guten wie in Schlechten Zeiten zum Kamerad E. !!! Zuverlässig, pünktlich und ein Kluger Kopf…“ Das war 2019, kurz nach der Tat, als Ernst noch in Untersuchungshaft saß. Und heute? „Ich möchte Stephan in ein anderes Licht stellen“, so Sawallich im Untersuchungsausschuss. Und dann wurde es im UNA munter: In ungewohnter, aber erfrischend direkter Weise ging das UNA-Mitglied Müller von der CDU den Zeugen an,  bis dieser jammerte: „Habe schon zu viel Fakten geliefert.“ Und dazu gehörte wohl auch, dass er nicht ohne Genugtuung seinen Spitznamen preisgab: „Der Hiltlerjunge“. Und dieser Hitlerjunge hatte nun Anfang der Nullerjahre einen Freund und Kameraden auf NPD-Veranstaltungen gefunden, nämlich Stephan Ernst, mit dem er auf zahllose rechtsradikale Demos, Kundgebungen und Versammlungen zog. 

Als dann die AfD nach ihrer Gründung 2013 mit der Flüchtlingskrise 2014/15 den rechtsradikalen Raum der politischen Bühne besetzte, da waren die aus Sicht des Verfassungsschutzes „abgekühlten“ Kameraden, Hitlerjungen und NPD-Leute zur Stelle. Mittlerweile zu Dritt, mit dem ungeliebten „Aufwiegler“ Hartmann, der „redet, redet und nichts macht“ (Sawallich). Aber die AfD hat offenbar was gemacht, so wundert es nicht, dass der Mörder Walter Lübckes von Sawallich noch heute als „ein AfD-Mann, ganz normal“ (vgl. auch HNA v. 16.12.2021) gesehen wird. Doch eine weitere dubiose Figur hatte schon früh im Zuge des NSU-Mordes an Halit Yozgat 2006 die rechtsradikale Bühne aus dem Hintergrund heraus betreten: der Verfassungsschützer Andreas Temme, der, so könnte man die Einlassungen Sawallichs deuten, die rechtsradikale Szene in Kassel zumindest mitorchestrierte. Der kam nämlich als ungebetener Kaufinteressent von Landserbildern zu Sawallich in die Leipzigerstraße, seinem damaligen Wohnort, der bis dahin nur Insidern bekannt war. Das war ca. 2010, da war Temme schon längst Mitarbeiter des Regierungspräsidiums unter Lübcke. Sie liefen also so durch die Zimmer in der Leipzigerstraße, sie kannten sich bis dahin nicht, und unterhielten sich so über die Bundeswehr – da kannte sich Temme aus, der angeblich Fallschirm- oder Gebirgsjäger war –, über die „manipulative Presse“ über „die Ausländer“ (O-Ton Sawallich) und dealten um sage- und schreibe einen Kaufpreis von 20 oder 30 Euro. Das war ungefähr das Reflexionsniveau von Temme und Sawallich. 20-Euro-Männer. Das lag wohl auch auf dem Level der Kagida-Veranstaltungen, die von Michael Viehmann auf dem Scheidemannplatz organisiert und häufig vom damaligen AfD-Sprecher und Rechtsanwalt Manfred Mattis mit ausländerfeindlichen Beiträgen mitgestaltet wurden. Auf diesen Veranstaltungen 2014 tauchte auch Stephan Ernst auf, der als „AfD-Mann, ganz normal“ seine 150-Euro-Wahlkampfspende an die AfD mit dem christlichen „Gott segne euch“ 2016 versehen hatte. Hier kamen die Brüder im Geiste zusammen: AfD und Ernst, Sawallich fehlte nach eigenen Angaben (was nachweislich gelogen war), Hartmann und Ernst waren auf der Lohfeldener-Veranstaltung, auf der Kagida in der ersten Reihe rumkrakeelt hatte, und da fehlte dann aber Temme – oder etwa nicht? 

Und hinzu kommt, dass Ernst zu diesem Zeitpunkt längst schon als „abgekühlt“ galt und trotzdem mit Sawallich bei dem Nazi-Strippenzieher Heise auf einer Sonnwendfeier 2011 in Fretterode (Eichseld, Thüringen) waren, 2017 auf einer AfD-Veranstaltung in Erfurt und 2018 in Chemnitz auf der großen Zusammenführung des rechtsradikalen Lagers mit Höcke an der Spitze zusammengekommen waren. Könnte es sein, dass der RP-Mitarbeiter und ehem. Verfassungsschützer Tremme an all diesen Zusammenkünften beteiligt war? Wo er doch schon bei Sawallich zuhause war. Ein Sumpf, der noch immer dampft.

Der Lübcke-Untersuchungsausschuss hat nun eine halbwegs große Aufgabe: Andreas Temme grillen und zwar so, wie der Abgeordnete Müller (CDU) sich den „Hitlerjungen“ Sawallich vorgeknöpft hat. Das wäre eine mögliche Abflussrinne der Nazi-Kloake in Nordhessen. 

 

 

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