Die Bombardierung Kassels vor 80 Jahren: Ein Beitrag zu den Hintergründen

Die Volkshochschule Region Kassel und das Stadtmuseum Kassel haben aus Anlass der Bombardierung Kassels am 22. Oktober 1943, also vor 80 Jahren, ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm aufgelegt (vgl. Faltblatt 1934-2013, Die Zerstörung Kassels vor 80 Jahren, hrsgg. vom Verein Freunde des Stadtmuseums Kassel e.V., 2023). Das Programm, das bis zum April 2024 reicht, umfasst, neben einer Sonderausstellung im Stadtmuseum, eine große Anzahl von Führungen, Exkursionen, Lesungen und weiteren Veranstaltungsformaten auch eine Vortragsreihe zu Hintergründen und zur Vorgeschichte des dramatischen Ereignisses 1943. Die Vortragsreihe wird von der VHS Region Kassel veranstaltet.

Ein Grund, neben mehreren anderen, für die Bombardierung Kassels war die Bedeutung Kassels als eines der wichtigsten Rüstungszentren im damaligen Nazi-Deutschland. Im Folgenden sollen deshalb in einer losen Folge einzelner Beiträge auf die Geschichte der Rüstungsindustrie Kassels bis heute eingegangen werden. Sie sind als Beitrag zum Gedenken und zur Aufarbeitung der Bombardierung Kassels 1943 zu verstehen und sollen zum besseren Verständnis der aktuellen (industrie)wirtschaftlichen Lage Kassels beitragen. Der Darstellung liegt mein Vortrag am 05.Oktober 2023 in der VHS Region Kassel zugrunde.

Im Folgenden soll es in einem ersten Teilabschnitt um die Entwicklung der Jahre 1933 bis 1939 gehen, in der die Entwicklung der Stadt zu einem Rüstungszentrum eingeleitet wurde. In einem anschließenden Beitrag sollen dann die zwei bedeutensden Unternehmen ihrer Zeit und ihrer Eigentümer Gegenstand der Darstellung sein, nämlich die Firmen Henschel & Sohn mit Oscar R. Henschel an der Spitze und die Gerhard Fieseler-Werke, mit dem gleichnamigen Firmeninhaber. Hier soll die Frage gestellt werden, inwiefern die beiden Unternehmerpersönlichkeiten eine Mitverantwortung für das Kriegsschicksal der Stadt hatten sowie die weitere Entwicklung ihrer Unternehmen als Teil der Kriegsindustrie bis 1945 waren.

in einer anschließenden Folge soll auf die rüstungswirtschaftlichen Voraussetzungen im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik näher eingegangen werden. Abschließend soll dann der Bezug zur aktuellen rüstungswirtschaftlichen Lage Kassels hergestellt und ein vorläufiges Fazit gezogen werden.

Die Rüstungsindustrie Kassel 1933 bis 1939[1]

Die Geschichte der Rüstungsindustrie in Kassel begann nicht erst mit der nazistischen Kriegsvorbereitung in den 1930er Jahren. Sie begann schon vor ca. 220 Jahren am Anfang des 19. Jahrhunderts, hatte Ihren ersten Höhepunkt während des Ersten Weltkriegs und erfuhr ihre unvergleichliche Fortsetzung in den 1930er und 1940er Jahren.

Mit der nazistischen Machtergreifung vollzog sich auch in der Kasseler Industrie ein tiefgreifender industrieller Wandel, der die wichtigsten Branchen Kassels erfasste, nämlich die Metall- und Textilindustrie. Die Umstellung der Industrie auf die Produktion von Rüstungsgütern erfolgte in zwei Stufen. Zum ersten in der Phase von 1933 auf 1939, in der die Umstellung von der Zivil- auf die Rüstungsproduktion eingeleitet wurde. Und in einer zweiten Phase von 1939 bis 1945, in der die reine Kriegsindustrie ihren Höhepunkt und zugleich ihren Niedergang erfuhr.

Ab 1933 wurde nur verlängert, was ohnehin schon da war. Die wichtigsten Unternehmen der Kasseler Wirtschaft standen 1933 in der Kontinuität politisch-wirtschaftlicher Verbindungen, die ihnen schon während des Ersten Weltkriegs wirtschaftlichen Erfolg gesichert hatten.
Das waren die öffentlichen Auftraggeber neben dem Eisenbahnbau, die Waffenämter bzw. das Reichswehrministerium und später die Wehrmacht mit dem Kriegsministerium bz. Göring mit seinem Reichsluftfahrministrium. Hinzu kamen für bspw. Salzmann & Comp. private Auftraggeber, insbesondere verschiedene Naziorganisationen zur Herstellung von Uniformen.

Die Kasseler Industrie war in ihrer Gesamtheit, produktionstechnisch, wirtschaftlich und personell prädestiniert für eine rüstungswirtschafliche Konzentration, wie sie die Nazis denn auch im Verlauf der 1930er Jahre vornahmen. Der Aufstieg der Kasseler Industrie in den 1930er Jahren geriet so zu einer Voraussetzung für ihren späteren temporären Zusammenbruch.

Sichtbarster Ausdruck dieser außergewöhnlichen Wirtschaftsaktivtäten waren die Entwicklung der Erwerbstätigkeit, die sich um fast 30% steigerte und die damit einher- und weitgehende Beseitigung der Arbeitslosigkeit zwischen 1933 und 1939.

Gemessen an der Erwerbstätigen stieg die Beschäftigung um fast 30% auf fast 100 Tausend.  Das war die bis dahin höchste jemals in Kassel gemessene Beschäftigtenzahl, die vor allem aufgrund des Wachstums der Industrie und hier vor allem der Metallindustrie zustande gekommen war.

Die Metallindustrie hatte sich mehr als verfünffacht. Das lag neben den klassischen Maschinen- und Fahrzeugbauunternehmen vor allem auch an der Flugzeugindustrie, die mehr und mehr in Kassel an Bedeutung gewann.

Vor allem die Metallbranche veränderte mit dem forcierten Einstieg in die Rüstungsproduktion ihre organisatorische Grundausrichtung. Waren in den 1920er Jahren noch die Kleinbetriebe, insbesondere im Handwerk die prägende Betriebsgröße, so wandelte sich die Betriebsgrößenstruktur grundlegend. Das Beschäftigungswachstum fand vor allem in den Großbetrieben statt.

Das Textil- und Bekleidungsgewerbe im Sektor Industrie und Handwerk blieb 1939 mit über 14.000 Beschäftigten zahlenmäßig bedeutsam. Sie hatte zwischen 1933 und 1939 ungefähr eine Vervierfachung der Beschäftigung aufzuweisen. Salzmann hatte schon früh die Umsatzbringer mit der Uniformausstattung z.B. der SA erkannt.

Den wirtschaftspolitischen Rahmen der Rüstungsinitiative der Nazis stellte indes der Göring`sche Vierjahresplan von 1936 dar, der auch die rüstungspolitische Seite des Kasseler Wirtschaftsaufschwungs darstellte.

Der Beschäftigungsschub zwischen 1933 und 1939 war am deutlichsten sichtbar bei der Firma Henschel und beim Aufbau der Flugzeugindustrie mit den Gerhard-Fieseler- und Junkers Werken und der den Henschel Motorenwerken in Altenbauna. Flankiert wurde er durch die Textilindustrie, insbesondere die Segeltuchweberein und die hinzugekommene Zellulosefertigung durch die Spinnfaser AG.

Mit der Gründung 1935/36 entwickelte sich die Spifa, wie sie im Volksmund hieß, mit einem Umfang von 50 Tagestonnen Zellwolle zum größten Zellwollproduzenten Europas.

Der größte Teil der Kasseler Industrie und ihr abhängiges Handwerk dienten der Vorbereitung der Kriegsindustrie sowie den Autarkieplänen des Regimes. Konservativ geschätzt waren allein in der unmittelbaren Rüstungsindustrie der Metall- und Textilwirtschaft ohne das zum großen Teil abhängige Handwerk und das Baugewerbe schon vor 1939 ca. 50.000 Arbeitnehmer tätig. Die Rüstungsindustrie hatte in Kassel zwar noch nicht die Regie übernommen, gleichwohl waren aber die unternehmenspolitischen, betrieblichen, personellen und produktionstechnischen Weichen so gestellt, dass die Kasseler Wirtschaft der politischen Kriegslogik der Machthaber 1939 notwendig folgen musste.

 

[1] In der folgenden Darstellung wird auf Quellenverweise verzichtet. Die Ausführungen basieren im Wesentlichen auf den Untersuchungen von Thomas Vollmer, Ralf Kulla, Panzer aus Kassel, Kassel 1994 sowie Michael Lacher, Arbeit und Industrie in Kassel, Marburg 2018.

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Dr.Peter Schulze-v.Hanxleden
    31. Oktober 2023 12:32

    Mal wieder hervorragend recherchiert und mit Statistiken belegt! Dem wirtschaftlichen Aufschwung Kassels mit „sicheren“ Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie steht letztlich die totale Katastrophe gegenüber. Bin sehr auf die folgenden Beiträge gespannt.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.