Fahrradkuriere: „Lieber im Warmen, als draußen im Regen stehen.“ Die Geschichte eines Widerstands gegen Unternehmenswillkür. Ein Interview

Orry Mittenmayer, Gewerkschafter, Aktivist, Buchhändler, Jobber, Fahrradkurier/Rider, ehem. Betriebsrat bei Deliveroo in Köln, Mitgründer von „Liefern-am-Limit“, 31 Jahre, Deutscher – und jetzt Student der Politikwissenschaft an der Uni Kassel.

Orry war als Gewerkschafter auf der Demo am 03.02.: Eine rasante und kämpferische Rede für Demokratie und Arbeitnehmerrechte, Solidarität mit allen Geflüchteten, Verfolgten, Drangsalierten und Elenden: Kasseler*innen steht auf.

 

Michael Lacher (ML): Was hat dich dazu gebracht, zusammen mit drei Mitaktivisten*innen eine Demo mit über 5.000 Teilnehmer*innen auf die Beine zu stellen?

Orry Mittenmayer (OM): Ungefähr vor acht Jahren war das, da hat die AfD mich getriggert, wo ich gedacht habe, wo soll ich jetzt hin, wohin soll ich flüchten, Deutschland ist doch meine Heimat. Das ist doch in den letzten Jahren eine Aneinanderreihung von Eskalationen mit der AfD und der Remigration. Die Potsdam-Geschichte (Zusammenkunft von Rechtsradikalen und AfD-Leuten zur Planung von Remigrationsmaßnahmen, ML) hat mich nicht überrascht. Nur die Dreistigkeit und bewusste Wahl zur Nähe zur „Wannsee-Konferenz“ … Die AfD kokettiert ja auch mit historischen Bezügen

ML: Und die Demos?

OM: Das hat mich wirklich überrascht mit welcher Intensität die Menschen auf die Straße gegangen sind. Wo Liberale, mit Linken und mit Konservativen demonstriert haben.

ML: Ist da nicht nur die „akademische Mitte“ auf die Straße gegangen?

OM: Nein, ich glaube, dass jetzt auch viele Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße gegangen sind, die vorher nix gesagt haben. Es gehört allerdings auch zur Wahrheit dazu, dass die AfD sich in den Betrieben selbst bei Betriebsräten etabliert hat. Und da gehe ich dann in den Nahkampf in den Betrieben, da spreche ich, zusammen mit Gewerkschaftssekretären, mit den Leuten, die AfD wählen. Und dann frage ich nach und diskutiere mit den Kollegen, „was macht denn die AfD gegen dich und nicht für dich?“ Und da gibt es immer so ein paar Wacklige, die man abholen kann. Und bei den akademischen Linken wird immer zu sehr abgegrenzt: „Das sind Rassisten, das sind Faschisten, das sind Sexisten“ und so. Ich finde, man muss sie trotzdem abholen.

ML: Wie geht’s jetzt weiter?

OM: Mein Anliegen ist es, in die Betriebe reinzugehen, mit Betriebsräten und mit Arbeitern zu reden.

ML: Wie bist du überhaupt zur Gewerkschaftsarbeit gekommen? Ich weiß, dass du in Köln Fahrradkurier warst. Du bist doch eigentlich Buchhändler.

OM: Man wollte mich nicht als Buchhändler in Köln. Es wäre wohl „zu schwer als Schwerhöriger (Orry ist von Geburt an schwerhörig, ML) mit der Laufkundschaft zurechtzukommen“, meinten die. Ich wollte auch nicht auf ein paar Quadratmetern den Rest meines Lebens mit Büchern verbringen. Ich habe dann Fachabi beim rwb Essen (Berufskolleg für Schwerhörige; ML) gemacht, bin dann vom Verband für Schwerbehinderte angesprochen worden, ein Freiwilligenjahr im Ausland zu machen. Ich bin dann für ein Jahr nach Ghana gegangen, um zu wissen, wie es ist, dass du in einer Gesellschaft nicht der Einzige bist, der schwarz ist. Hab‘ dann anschließend in Köln gejobbt, im Einzelhandel, Klamottenladen und auf‘m Bau, im Lager Kisten geschleppt und so. Hab dann gekündigt, weil ich allgemeines Abi am Abendgymnasium machen wollte, brauchte unbedingt Geld, hab gegoogelt und bin dann über Foodora (Lieferservice; ML) gestolpert. Die haben mich begeistert, weil ich erstens keine Bewerbung schreiben musste, habe also Geld gespart, zweitens Privatdaten online eingeben, also Einstiegshürde sehr gering, drittens brauchte ich keinen Einstellungstest oder sowas machen, da hatte ich wahnsinnige Angst vor, hatte mir nichts zugetraut und viertens ich sollte nur ein Fahrrad haben. Und was mich sehr überzeugt hat, dass die sehr aggressiv kommuniziert hatten, du kannst selbst entscheiden, wann und wie lange du arbeitest. Hab‘ mich beworben und zwei Tage später konnte ich Essen ausliefern.

ML: Erklär mir mal, wie das funktioniert mit dem Lieferservice

OM: Am Anfang hab‘ ich noch nicht gecheckt, wie hart die Arbeitsbedingungen sind. Die haben ja diesen perfiden psychologischen Trick angewandt: „Du arbeitest nicht für uns, sondern wir bezahlen dich dafür, dass du Sport machst. Über uns bekommst du ne Sommerfigur.“ Wenn du Anfang 20 bist, lässt du dich einlullen.

ML: Was waren die genauen Bedingungen?

OM: Die haben sich Mühe gegeben, dass das alles fancy aussieht. Alles junge Menschen, kommst in ein Altbaugebäude rein, alles cool, alles hip, steht da n Kicker, Bier in der Kühltruhe – und dann: erstmal 100 Euro Pfand von dir verlangt. Für die Box, mit der du transportierst. Und Klamotten, die überhaupt nicht gut sind. So’n dünnes Poloshirt, wo man sofort einen Hautausschlag bekommen hat. Billige Produktion. Haben die in der Anfangsphase gestellt. Die Bedingungen muss man sich so vorstellen: Fahrrad stellst du selbst. Du stellst dein Handy, Gebühren zahle ich selbst. Daten werden gesammelt und weitergegeben, damit verdienen die auch gut Geld. Daten von Kunden und den Ridern. Was wurde bestellt, welcher Stadtteil etc. Daten von den Ridern: Was braucht ein Rider, wie schnell ist der. Leistungskontrolle. Arbeitsklamotten für alle vier Jahreszeiten. Selbst mitgebracht. Mehrere Kombinationen bei einem 40-Stunden-Job, ohne das stinkst du ja wie sonst was am Ende. Kostet wahnsinnig viel Geld. Handys brauchst du eins bis zwei pro Jahr. Guckst ja ständig drauf, Akkus werden angegriffen, Handy fällt auch mal runter, wenn du acht Stunden im Schnee fährst. Und dann hast du, als wäre das nicht alles schamlos genug, Ein-Jahres-Verträge. Einmal scheiße gebaut, wirst du nicht mehr verlängert. Überlegst dir dreimal, ob du dich krank meldest. Dann rufen die dich zuhause an und drohen dir: „Du hast doch nächsten Monat Feedback-Gespräch.“ So offen drohen die, dann gehst du auf die Straße. Und die Kontrolle: Die sehen alles ganz genau, auf die Minute, sehen ganz genau, ob du schnell genug fährst und wo du bist. Sehen deine Durchschnittszeit und du wirst abgemahnt, wenn du davon abweichst.

ML: Und wie ist es mit Entgelt?

OM: Damals, bei Deliveroo (gibt es in Deutschland nicht mehr, ML), Mindestlohn 9,38 €. Alle genannten Kosten abgezogen, ungefähr im Monat 1.000 bis 1.100 Nto., mit Trinkgeld. Wir haben vom Trinkgeld gelebt. Vom Trinkgeld war abhängig, ob wir Mittagessen gehen können oder nicht.

ML: Wie lief das bei Deliveroo mit den Verträgen?

OM: Wir haben 6-Monats-Verträge angeboten bekommen oder Soloselbstständigkeit, dabei bekam man 5 € pro Auftrag. Am Tag ca. 12 Aufträge, unterschiedlich nach Jahreszeiten und witterungsbedingt. Das war paradox: Du kamst beim Kunden total durchnässt an und der gab dir dann 4 € Trinkgeld. Das war gut.

ML: Wie funktioniert das denn mit den Aufträgen?

OM: Also, Plattformökonomie: Du bestellst über ne Deliveroo-App dein Essen, der Rider checkt, wo das Restaurant ist, in dem ich das Essen abhole, wie lange ich brauche, ob das Essen fertig ist, ob die Order schon eingetroffen ist etc. Du weißt auch nicht, wie lange du bis zum Kunden brauchst. Wenn du die Order ablehnst, stuft dich ein Algorithmus zurück und du bekommst immer weniger lukrative Aufträge. Damit wird künstlich ein Druck erzeugt, dass du jeden Auftrag annehmen musst. Dann konnte es vorkommen, dass du nur noch einen Stundenlohn von 2,50 € hattest, weil du nur eine Order innerhalb von 2 Stunden machen konntest. Dann kam noch das Problem der Scheinselbstständigkeit dazu. Und dann kam 2015/16 die Flüchtlingswelle, da wurden jede Menge geflüchtete Menschen rekrutiert, denen das blaue vom Himmel erzählt wurde: „Du musst keine Steuern zahlen, keine Verpflichtungen und falls was kommt, kümmern wir uns drum.“ Und ein Jahr später kamen die Berufsgenossenschaften, das Finanzamt klopften an: „Wo ist das Geld?“ Und plötzlich waren die am Arsch.

ML: Was erwartet ihr als Kuriere denn von den Kunden, die das Essen bekommen?

OM: Natürlich Trinkgeld. Das hilft vor allem vor dem Hintergrund, dass man sich das auch leisten kann, wenn man sich für 25 Euro Sushi liefern lässt. Das ist das eine. Das andere ist, den Kurieren auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen. Es ist ein knochenharter Job, der nicht leicht zu bewältigen ist und bekommen dafür viel zu wenig Respekt und Anerkennung von den Kunden.

ML: Wie war nach 2015/16 das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Geflüchteten und den anderen?

OM: Am Anfang waren das meistens Studis. Dann hatten wir plötzlich gerade noch 20 % Studis und Deutschsprachige. Da kamen dann Leute aus Afghanistan, Syrien usw. Und dann sagten mir die schon: „Für jeden Rider, der aufhört, nehmen wir Flüchtlinge.“

ML: Wie kamst du dann zu deinen gewerkschaftlichen Aktivitäten?

Dann haben wir plötzlich in einem richtig schlimmen Winter 2016/17 plötzlich kein Gehalt mehr bekommen. Dann haben die uns stattdessen 150 € Weihnachtsgeld angeboten. „Feiert mal schön mit euren Lieben.“ Aber dann kam der Vermieter und hat angeklopft…Dann haben wir alle 150 Fahrer gesagt, wir haben keinen Bock mehr, wir kündigen jetzt alle, gleichzeitig. Dann kam einer um die Ecke, Keno Böhme, und meinte: Könnt ihr machen, aber dann macht Deliveroo einen Umsatzverlust vielleicht von ein, zwei Tagen, dann haben die euch alle wieder ersetzt. „Geht doch zur Gewerkschaft, zur NGG.“ (Gewerkschaft Nahrung-Genussmittel-Gaststätten, ML) . Häh, was ist denn die NGG? „Leute, keine Angst, wir gehen dahin, trinken Kaffee, essen Kuchen.“ Dann waren wir überzeugt. Nicht von der NGG, aber vom Kuchen, es gibt Kaffee. Lieber im Warmen, als draußen im Regen stehen. Dann haben wir mit zwei taffen Frauen von der NGG gequatscht. Haben denen alles erzählt.

ML: Was haben die euch gesagt?

OM: Die haben uns dann gesagt, wie wir als Betriebsrat der Deliveroo ans Bein pinkeln können. Das war der selling point. Hey, wir haben zwar nur die Hälfte verstanden, aber Betriebsrat, das nervt Deliveroo. Wir sind dabei. Wir waren sechs, sieben Leute und haben angefangen, uns zu organisieren. Dann hatten wir das Glück, dass Menschen wie ich, das Vertrauen von anderen schwarzen Fahrern und Fahrerinnen hatten, von türkischen Fahrern usw., die Vertrauen in mich hatten, weil ich einer von denen war.

Dann haben wir alle mal rangeholt in den Stadtgarten und haben ein paar Monate lang Partys geschmissen. Haben gemeinsam Bier getrunken nach Schichtende und gemeinsam gekocht. Wir haben Beziehungen aufgebaut. Wir waren dann als Gruppe bekannt. Die haben uns vertraut und gesehen, dass wir keine Lügen erzählen und sie nicht verarschen. Dann haben wir eine Vollversammlung einberufen. Da hat Deliveroo begriffen, hoppla, da passiert was. Die haben dann alle Kommunikationskanäle in andere Städte gekappt, weil wir das da angekündigt hatten.

ML: Was habt ihr dann gemacht?

OM: Wir haben gleich mit WhatsApp weitergemacht. Da konnten wir dann nach und nach einen Betriebsrat organisieren. Dann haben die reagiert und gedroht, nur noch Soloselbstständige statt Befristete einzustellen. Das ist arbeitsrechtlich ein großer Unterschied, weil du dann keine Arbeitnehmerrechte, wie z.B. Sozialversicherungspflicht etc. mehr hast und vor allem kein Recht mehr auf einen Betriebsrat. Da sind wir dann als Gegenstrategie an die Öffentlichkeit gegangen. Da bin ich auch der SPD sehr verbunden, da ist dann der Hubertus Heil (Bundesarbeitsminister, ML) zu uns nach Köln gekommen. Da habe ich dann zum ersten Mal gesehen, SPD, krass, die machen was für uns. Und da bin ich dann auch dabeigeblieben.

ML: Wie ging‘s dann weiter?

OM: Köln ist dann so ein bisschen Hauptstadt des Widerstands gewesen. Foodora in Köln hatte schon einen Betriebsrat. Bin dann mit zwei Freunden und der NGG durch die Städte gereist und habe vor Ort mit den Ridern gesprochen und wir haben denen gezeigt, wie sie einen Betriebsrat gründen können. Jetzt gibt es 18 Betriebsräte bei Lieferando, die Foodora geschluckt haben. Delivero (britisches Unternehmen, ML) ist abgehauen aus Deutschland, weil die Schiß hatten, dass noch mehr Betriebsräte kommen. Jetzt gibt es einen Gesamtbetriebsrat bei Lieferando und die kämpfen für einen Tarifvertrag.

ML: Und Kassel?

OM: Ich bin ja noch mit den Ridern in Köln im Gespräch und mit der NGG hier in Kassel. Da versuchen wir jetzt, ob man hier mit Lieferando, Wolt und Flink (Lieferservices in Kassel, ML) was machen kann.

ML: Und wie gings bei dir persönlich weiter?

OM: Ich hatte ja Abi und bin nach Marburg zum Studieren gegangen. Habe da meinen Bachelor gemacht. Und jetzt mache ich in Kassel meinen Master.

ML: Warum Kassel?

OM: Kassel ist ein bisschen städtischer als Marburg und dann gibt es hier die NGG, mit der ich auch schon von Marburg aus gewerkschaftspolitisch gearbeitet habe. Ich würde gerne später hauptamtlich in der Gewerkschaft arbeiten und da ist die Kasseler Perspektive gut, weil hier in der Gastronomie viele migrantische Menschen arbeiten. Außerdem gibt es hier den Masterstudiengang Labour Policies and Globalisation, da sind auch viele migrantische Studis. Das ist eine ganz andere Atmosphäre als in Marburg.

ML: Ich glaube, Orry, da sind wir jetzt einigermaßen rund. Ich danke dir für deine ausführlichen Auskünfte. Das war ein spannender Nachmittag für mich. Ich habe viel gelernt. Alles Gute für dich und deine Sache hier in Kassel.

 

 

 

 

 

6 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Erika Tschirren
    14. Februar 2024 18:42

    Tolles Interview

    Antworten
  • tolles Interview!
    Und es zeigt: Widerstand lohnt sich und gibt Kraft!

    Antworten
  • Rudi Stassek
    13. Februar 2024 16:09

    Danke Michael, ein nicht alltäglicher Einblick…

    Antworten
  • Cooles Interview, danke! Harter Job… In der Schweiz gab es in der Vergangenheit zahlreiche Arbeitskonflikte im Bereich der „Velokuriere“, wie sie hier heissen. Daraus resultierte ein Tarifvertrag, der recht gut ist.

    Antworten
  • Gerald Warnke
    13. Februar 2024 14:07

    Danke, Michael.

    Antworten
  • José del Coz
    13. Februar 2024 12:22

    Tolles Interview – Danke Michael. Die Ausführungen von Orry Mittenmayer (OM) zum Widerstand gegen die AfD erinnern mich an Klaus Dörre im Freitag, wo er u.a. schrieb, die Auseinandersetzung mit der AfD sollte auf persönlicher Ebene beginnen, auch am Arbeitsplatz, im betrieblichen Alltag. Laut OM scheint es erfolgsversprechend, wenn er meint, einige AfD-Sympathisanten könnte man im persönlichen Gespräch ‘abholen’.

    Wünsche ihm weiterhin viel Durchhaltevermögen und erfolgreiches politisches Engagement!

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