Fünf Jahre Mord an Walter Lübcke – ein historisches Vermächtnis ohne politische Folgen?

Michael Lacher

Am 22. Dezember 2020 sitzt der Angeklagte Stephan Ernst vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt. Er ist angeklagt, in der Nacht vom 01. auf den 02. Juni 2019 den Mord an Dr. Walter Lübcke begangen zu haben. Es ist der Tag der Plädoyers. Es ist vor allem der Tag des Oberstaatsanwalts der Generalbundesanwaltschaft Dieter Killmer. Ein großer Tag des Rechtsstaats, weil der Staatsanwalt es vermag, die historische Linie des deutschen Rechtsterrorismus vom Mord an dem jüdisch-liberalen Walther Rathenau (siehe Bild) 1922 bis hin zum Mord an Walter Lübcke, dem liberal-konservativen Regierungspräsidenten Kassels, zu ziehen. Beides „rassistisch“ motivierte „politische Morde“, so Killmer, die sich letztlich gegen eine liberale, rechtsstaatlich verfasste Republik gerichtet haben.

Ungleiche Herkunft

Walther Rathenau und Walter Lübcke, beide Opfer rechtsterroristische Gewalt, deren jeweilige Herkunft kaum unterschiedlicher sein kann. Hier der Sohn einer großbürgerliche Fabrikantenfamilie aus Berlin, Naturwissenschaftler, Techniker und Philosoph, Aufsichtsratsvorsitzender der „Allgemeinen Elekticitäts-Geselllschaft, AEG“, Mitglied der liberalen DDP, Außenminister 1922 und politischer Architekt der deutschen Aussöhnung mit der Sowjetunion („Rappallo-Vertrag“).

Auf der anderen Seite Walter Lübcke, aus eher kleinen und grundsoliden Verhältnissen im Waldeckschen Land in Nordhessen stammend. Der Vater Lebensmitteleinzelhändler, die Mutter Kindergärtnerin und Hausfrau, Lehre zum Bankkaufmann, Fachabitur in Kassel auf dem Zweiten Bildungsweg, acht Jahre Zeitsoldat, Studium der Wirtschaftswissenschaft mit Abschluss einer Promotion, CDU-Mitglied seit 1986, zehn Jahre Mitglied des Hessischen Landtags, Kuratoriumsmitglied in der hessischen Landeszentrale für politische Bildung und Leiter einer Jugendbildungsstätte in Ohrdruf (Thüringe)n. Was für ein Aufstieg. Und schließlich Regierungspräsident des Regierungsbezirks Kassel ab dem Jahr 2009. Und das nicht nur so: Er war äußerst beliebt bei den Mitarbeitenden, er war hilfsbereit und nahbar, er war immer gesprächsbereit, seine Bürotür stand offen – auch für politisch Andersdenkende. So auch beim persönlichen Kaffeeplausch im eher kargen Dienstzimmer.

Walter Lübcke war persönlich liberal und politisch konservativ, er hatte seine politische Karriere nicht zuletzt dem Ministerpräsidenten Roland Koch zu verdanken, was nicht immer politische Feinkost war, vor allem in Wahlkämpfen nicht (CDU-Kampagne gegen „Doppelte Staatsbürgerschaft“). Diese Kampagne schwemmte Walter Lübcke in sein erstes Landtagsmandat. Aber irgendwie konnte man ihm, trotz allem, nie böse sein. So auch 1999 die Wählenden im damals noch „roten“ Landkreis Kassel. Walter Lübcke im Blaumann mit 8mm Spiralbohrer im Raiffeisen-Baumarkt in Wolfhagen. „So war der eben, unser Walter,“ so ein Einwohner Wolfhagens später. Ein Praktiker der lokalen Macht auf dem Lande mit einem christlichen Menschenbild.

Walter Lübcke (rechts) ca. 1973 auf einer Reise zur Leipziger Buchmesse mit dem Deutschlehrer Dieter Bach und Klassenkameraden (links der Autor des Textes) 

Walther Rathenau wurde am 24. Juni 1922 unweit seiner Villa im Berliner Nobelviertel Grunewald ermordet. Walter Lübcke am späten Abend des 01. Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses im Wolfhagener Ortsteil Istha. Sämtliche Attentäter waren Rechtsradikale. Um Opfer rechtsradikalen Terrors zu werden, braucht man kein Linker zu sein. Es reicht, in dunklen Zeiten das Richtige zu tun. Egal mit welchem Parteibuch in der Tasche, egal mit welchem Glauben. Wer einmal mehr mahnend von Demokratie spricht, sollte sich seiner persönlichen Haltung sicher sein. Walter Lübcke hat selten gemahnt, er hat gemacht.

Rückschau: Was geschah vor dem Mord

Walter Lübcke war ein Merkel-Mann. Den Ausbau von Flüchtlingsunterkünften packte er entschlossen an. Das führte schließlich zu dem verhängnisvollen Auftritt Lübckes 2015 in einer Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel. Lübcke nach ständigen Pöbeleien und persönlichen Beleidigungen aus den ersten Reihen von KAGIDA-Anhängern „…dass wir auch das (die Werte, M.L.) in der Schule weitergeben, trägt auch Früchte.., dass wir eine tolle Schule haben, dass wir mit Kirchen, die eine Wertevermittlung haben, wo wir sagen, es lohnt sich in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten. Und wer diese Werte nicht vertritt, kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen…“.

Das Ende ist bekannt, vielfach dokumentiert, behandelt und die politischen Konsequenzen als Tiefpunkt hessischer Parlamentskultur beschrieben (Der Freitag 30/2023). Nicht nur die jahrzehntelange Reihe rechtsradikaler Gewaltausbrüche bis hin zu den elenden Hanau-Morden 2020 prägen seit Jahrzehnten die hessischen Verhältnisse (vgl. Sascha Schmidt, Yvonne Weihrauch, Rechter Terror in Hessen). Ein vorläufig letztes Beispiel eines rassistischen Messerangriffs auf einen türkischen Minicar-Fahrer in Kassel aus dem Jahr 2020, der weder von der Polizei noch von der Justiz weiterverfolgt wurde, zeigt einmal mehr das Einsickern von Laxheit und Ignoranz bei rassistisch motivierten Straftaten in den hessischen Polizei- und Justizapparat. Die damaligen Regierungsparteien (CDU, Grüne) waren sich bei der Beobachtung und Verfolgung des lange als rechtsradikal bekannten Mörders Walter Lübckes einig: „Wir haben nichts verkehrt gemacht,“ Und mehr noch: Der amtierende Ministerpräsident Rhein und ehemalig Innenminister im hessischen Untersuchungsausschuss am 20.01.2023: “Die bis heute unerklärliche und schreckliche Tat hätte nicht verhindert werden können.” Das war angesichts der riesigen Versäumnisse des hessischen Verfassungsschutzes der politische Schluss- und gleichzeitig Tiefpunkt des vermeintlichen Aufklärungswillens der damaligen Mehrheitsfraktionen aus CDU und Grünen im hessischen Landtag.

Doch was die damaligen parlamentarischen Mehrheitsakteure  nicht bereit waren, politische zu übernehmen, wird bis heute in die Institutionen verlängert.  Jüngstes Beispiel des Institutionenversagens in Hessen ist die Einstellung des Verfahrens gegen Polizeibeamte, die über Jahre rassistische und rechtsradikale Chatverläufe als NSU-2.0 über ihre Computer laufen ließen. Dazu passt, dass Anfang April der „stern“ meldete, dass gegen 400 Polizisten wegen des Verdachts auf „rechtsextremistische Einstellungen“ in den Ländern ermittelt wird. 47 Verdachtsfälle gab es im April d.J. in Hessen (Hessenschau v. 04.04.2024), die, so ist zu vermuten, nur die Spitze eines rechtsextremistischen Eisbergs im Polizeiapparat sein dürften.

Die neue Koalition in Hessen

Mit dem Rechtsruck bei der Landtagswahl am 08. Oktober 2023 honorierten die Wählenden die Arbeit der SPD und der Linken in den Untersuchungsausschüssen nicht. Im Gegenteil, sie wurden abgestraft und als Dank für das Versagen der CDU-geführten Nachrichtendienste und Polizei fiel die SPD der CDU in die offenen Arme. Mehr noch: Mit dem Abgang des verantwortlichen Innenministers Beuth aus dem neuen Kabinett wurde sein folgenloses Wirken bei der Fehlersuche der rechtsradikalen Morde an Walter Lübcke und in Hanau von seinem Nachfolger Poseck nachträglich konterkariert: „Peter Beuth hat große Erfolge vorzuweisen. Er hat die Polizei und ihre Ermittlungsmöglichkeiten deutlich gestärkt. Daran will ich anknüpfen…“ so Poseck bei der Amtsübernahme. Mit so einer Ankündigung ist es der AfD und ihren rechtsradikalen Helfern nicht bange. Ist es doch eine Ankündigung weiterer Folgenlosigkeit, die schon im Koalitionsvertrag von CDU und SPD in Hessen angelegt ist: So bleiben die rechtsradikalen Morde unerwähnt, was umso tragischer ist, als die SPD (zusammen mit den Linken und der FDP) maßgeblich am Zustandekommen des Lübcke-Untersuchungsausschusses beteiligt war. Und nun, nachdem ihr damaliger Fraktionsvorsitzender Günter Rudolph als SPD-Obmann des Untersuchungsausschusses ein kämpferisches Vermächtnis im Landtag abgeliefert hatte, mittlerweile im SPD-Niemandsland versackt ist. Ein Vermächtnis, das letztlich auch dem CDU-Mitglied Walter Lübcke versagt geblieben ist. Konnte sich doch die damalige Koalition aus CDU und B‘90/Die Grünen in ihrem Abschlussbericht noch nicht einmal eine Entschuldigung für ihr politisches Versagen in der Verhinderung des Mordes an Lübcke abringen.

Die notwendige Zäsur beim hessischen Verfassungsschutz, seine radikale personelle Neuorientierung, sein notwendiger organisatorischer Umbau, die Überprüfung seiner internen Prozesse sowie die rigorose parlamentarischer Kontrolle, all das ist ausgeblieben. All das hätte auf dem Verhandlungstisch bei den Koalitionsverhandlungen liegen müssen. Übrig geblieben ist die kümmerliche Ankündigung zur Einrichtung einer Landesstiftung für Demokratie, Aufklärung und politische Bildung, die im Übrigen noch 2019 von der CDU und den Grünen abgelehnt worden war. Kurzum: Auch mit der Koalition aus CDU und SPD wird es, das vermittelt die politische Ausgangslage, in Hessen keinen Neuanfang bei der nachrichtendienstlichen und polizeilichen Bekämpfung des Rechtsradikalismus geben.

Um schließlich in der Perspektive des Oberstaatsanwalts Killmer zu bleiben: So endete das Bemühen des Kabinett Wirth nach der Ermordung Rathenaus in einem „Gesetz zum Schutz der Republik“, das sich später gegen die Linke richtete, wie auch die hessischen Koalitionäre in ihrem demokratiepolitisch verkümmerten Koalitionsvertrag die Bekämpfung des allgemeinen Extremismus als Antwort auf die rechtsradikalen Morde herausstellten. Da sind dann die hessischen verantwortlichen Akteure doch ehrlicher in ihrem Bemühen um die Demokratie: Sie marginalisieren den Rechtsradikalismus und nehmen die vermeintlichen Linksextremisten gleich mit aufs Korn. Dabei wird einmal mehr großzügig darüber hinweg geschaut, dass der Mord an Walter Lübcke von einem Rechtsradikalen verübt wurde. Dieter Killmer hätte hier den Verfassern des Koalitionspapiers hilfreich zur Seite stehen können. Wie auch immer: Der Mörder Walter Lübckes, Stephan Ernst, wurde bekanntlich zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Mitangeklagter Markus Hartmann ging als freier Mann nach Hause.

5 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Gerald Warnke
    4. Juni 2024 9:49

    Lieber Michael,
    Das ist sehr schade und politisch befremdlich , dass der Freitag diesen hervorragenden Artikel nicht veröffentlicht hat. Die politischen Verhältnisse rücken immer weiter nach rechts, umso notwendiger ist es, dass eine solche Analyse möglichst viele Leser/innen findet und umso unverständlicher ist die Reaktion des Freitag, diesen Artikel nicht zu veröffentlichen.
    Danke für diese Analyse – und hoffentlich findet sie doch noch den Weg in eine größere Öffentlichkeit.

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  • Prof. Dr. Werner Ruf
    3. Juni 2024 11:02

    Danke für diese Worte eines aufrechten Demokraten! “An ihren Taten werdet Ihr sie erkennen,” sagte vor rd. 2000 Jahren unser Prophet. Das sollten sich unsere Regierungsparteien (die jetzigen wie ihre Vorgänger) auf den Spiegel schreiben, damit sie morgendlich daran erinnert werden!

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  • AUSGEZEICHNET, MICHAEL, beste Grüße Thomas Jansen

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  • Danke für diese Zusammenfassung bzw. Herleitung!

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  • Hoffentlich schafft es der Freitag noch, deinen wunderbaren Artikel nachträglich unterzubringen. Er verdient ganz viele Leser*innen. Übrigens schönes Erinnerungsfoto von 1973 – Du, Walter Lübcke und der gute Dieter Bach!

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