Grün-Roter Koalitionsvertrag unterzeichnet: Was bleibt hier Rot?

Das Vertragswerk: Viel Grün und wenig Rot? Sicher ist, dass es der Kasseler Klimabilanz hilft, wenn Arbeitnehmerinteressen bei den klimapolitischen Maßnahmen Berücksichtigung finden. Ein grün-roter Vertrag sollte dann einen Beitrag zur Klimagerechtigkeit leisten. Klimagerechtigkeit bedeutet für die Arbeitnehmer*innen 

  • sichere und nachhaltige Arbeitsplätze (auch in Zukunft für ihre Kinder), 
  • tarifvertraglich abgesicherte Bezahlung,
  •  guten Gesundheitsschutz, 
  • Teilhabe durch Mitbestimmung und Betriebs- und Personalräte sowie
  • individuelle Entwicklungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz und
  •  kontinuierliche Qualifizierungsmöglichkeiten (on/off the Job).

Klimaschutz und Arbeitnehmerschutz gehören zusammen.

Kassel und die Region stehen angesichts eines notwendigen Umbaus der Industrie durch die Maßnahmen zur Dekarbonisierung vor riesigen Herausforderungen. Allein in der Mobilitätswirtschaft stehen durch die Transformation zur Elektromobilität und Digitalisierung zwischen 5.000 und 8.000 Arbeitsplätze zur Disposition. Im privaten Dienstleistungsbereich grassiert die „prekäre Beschäftigung“: Clickworker ohne soziale Absicherung, befristet Beschäftigte, Arbeit auf Abruf, unterlaufene Mindestlöhne, Soloselbstständige, unfreiwillige Teilzeitarbeit und vieles mehr. Die Coronakrise wird zudem nicht ohne Folgen für die Beschäftigung bleiben. 

Rot in dem Koalitionsvertrag muss heißen, dass die Koalition sich auch um die Themen „Transformation“ und „Prekäre Beschäftigung“ kümmert oder doch zumindest bemüht. Der Begriff „prekäre Beschäftigung“ kommt in dem Vertragswerk nicht einmal vor. Stattdessen wird von „guter Arbeit“ gesprochen, ohne zu erklären, was damit gemeint ist. Für Unternehmen dürfte „gute Arbeit“ häufig etwas anderes bedeuten als für Arbeitnehmer.

Bei der „prekären Beschäftigung“ und der Transformation geht es um Arbeitnehmerschutz und Prozessgestaltung. Klimaneutralität in Kassel bis 2030 geht nicht, ohne die Arbeitnehmer in diesen Prozess mitzunehmen.

Die zentrale Frage an die Koalition lautet (neben den klimapolitischen Maßnahmen) also: Wie möchte sie die Interessen der Arbeitnehmer*innen schützen, ausbauen und nachhaltig sichern?

Die Wirtschaft der Stadt Kassel stellt für ca. 111.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Arbeitsplätze zur Verfügung. Ca. 80% davon sind im öffentlichen und privaten Dienstleitungsbereich und ca. 20% in der Industrie angesiedelt. Knapp 50.000 Beschäftigte davon leben in Kassel. Sie kommen in dem Koalitionspapier mit ihren originären Arbeitnehmer*inneninteressen nur unmaßgeblich vor. Vor allem die „prekär Beschäftigten“ spielen in dem Papier keine Rolle. Diese Benachteiligten haben keine Stimme in der Stadt. Hinzu kommt, dass es keine Kenntnisse darüber gibt, wie hoch der Anteil der „prekär Beschäftigten“ in der Stadt ist und wieviel davon im sog. Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Arbeitnehmer*innen sind die Armen von morgen. Städtische Sozialpolitik (die im Koalitionsvertrag umfänglich ausgearbeitet ist) von morgen, fängt bei der Beschäftigung von heute an. Je mehr aktive Beschäftigungspolitik existiert, desto weniger Sozialpolitik ist morgen notwendig. Diese Lehrbuchweisheit müssen die Koalitionäre noch lernen. (hilfreich für die SPD wäre dabei gewesen, sie hätte in die Verhandlungsrunden und ihren Unterbezirksvorstand einen gewerkschaftlich aktiven Arbeitnehmer*innenvertreter gewählt).

Deshalb schlage ich ein 10-Schritte-Programm vor:

  1. Entwicklung von Kriterien „guter Arbeit“;
  2. Aufnahme der „guten Arbeit“ in den „Green Deal“ (S.39);
  3. Evaluierung und Monitoring geförderter Unternehmen nach den Kriterien „guter Arbeit“;
  4. Keine Förderung von Unternehmen (Förderprogramm „Lokale Ökonomie“, Start Ups) ohne Einhaltung der Kriterien „guter Arbeit“;
  5. Integration der Kriterien „guter Arbeit“ in die „Smart-City-Strategie“;
  6. Einrichtung einer Expertenkommission zur Überprüfung „guter Arbeit“;
  7. Einrichtung eines „Transformationsbeirats“ zur Begleitung und Unterstützung des Transformationsprozesses der Industrie, insbesondere der Mobilitätswirtschaft und ihrer Zulieferer;
  8. Untersuchung zum aktuellen Stand des Transformationsprozesses in der Mobilitätswirtschaft und vor allem ihrer Zulieferfirmen;
  9. Untersuchung zum Stand der „prekären Beschäftigung“ und des Niedriglohnsektors;
  10. Berufung eines Arbeitnehmer*innenvertreters in die Aushandlung zum „Green Deal“.

Klimaneutralität bis 2030 geht nicht ohne Klimagerechtigkeit. Die Stadtverordneten sollten das in ihrem künftigen Votum berücksichtigen.

2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Hubert Hackenschmidt
    9. August 2021 9:47

    Lieber Michael,
    du sprichst das wesentliche Problemfeld an, dessen Vernachlässigung durch die SPD zu den jetzigen Stimmungslagen, Wahlbeteiligungen und -Ergebnissen führen.
    Der geringe Organisationsgrad bei den prekär Beschäftigten macht die Sache auch nicht einfacher.
    Dies muss allen Verantwortlichen klar sein. Wenn dem nicht so ist, steht auch ein gewerkschaftlich Verankerter in Gremien, von denen es dort mehr geben sollte, allein da.

    Viele Grüße Hubert Hackenschmidt

    Antworten
  • Bernd WILHELM
    9. Juli 2021 13:44

    Lieber Kollege Lacher,
    Ihre Initiative finde ich gut.
    In der Tat gehören Klimaschutz, sichere Arbeit und eine ausgewogene Wirtschaftspolitik zusammen. Wer sie als Gegensätze oder gar sich ausschließene Faktoren betrachtet, hat wenig bis nichts verstanden. Es ist oberste Pflicht der Administration, die echte Bürgerinteressen und -Bedürfnisse zu respektieren und angemessen zu berücksichtigen. leider kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Klima- und Umweltaspekte eine ausgewogene Diskussion eher verhindern und es eher in Richtung eines “grünen Sozialismus” geht. Und eine isolierte, d.h. von politischen und wirtschaftlichen Umfeld und Rahmenbedingungen abgekoppelte Vorgehensweise – ich denke hier auch an die EU – führt uns ins Abseits.

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