Lübcke-Mord: Der Staat ohne Aufklärungswillen?

Am 11. Juli 2018 endete der erste NSU-Prozess beim OLG München mit der Freilassung des neben Beate Zschäpe u.a. Mitangeklagten André Eminger mit seiner sofortigen Freilassung. Auf der Zuschauertribüne klatschten und johlten die angereisten Rechtsradikalen und verhöhnten den Rechtsstaat. 

Hätte nicht die Corona-Pandemie eine größere Zuschauerzahl verhindert, hätte die rechte Szene am 01. Oktober 2020 einmal mehr Grund zum Jubeln gehabt: Markus H. aus Kassel (Exif-Recherche nennt den Klarnamen: Markus Hartmann) wurde durch den Staatsschutzsenat des OLG Frankfurt/M. auf freien Fuß gesetzt. Er ist ein seit Jahren bekannter Rechtsradikaler. Er wird verdächtigt, Helfer, Mitwisser, Waffenbeschaffer und Antreiber des Mordes an Walter Lübcke gewesen zu sein. Nach seiner Freundin soll er sich selbst als „Stadtreiniger“ bezeichnet haben. „Gereinigt“ werden sollte die Stadt von Frauen, Kindern, Männern mit einem anderen Glauben, anderer Herkunft, Hautfarbe, politischer Einstellung oder sexueller Orientierung. Wie die „Reinigung“ hätte aussehen können, hat der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, gezeigt.

Am 25. Juni 2020 wurde der Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags (UNA 20/1) zum Mord an Walter Lübcke eingesetzt. Nach monatelangem Ringen zwischen den Befürwortern der Einsetzung (SPD, Linke, FDP) und ihren Skeptikern aus der Landesregierung (CDU, Grüne) begann der dann gemeinsam beschlossene Untersuchungsausschuss seine Arbeit mit dem Versuch, Akteneinsicht zu dem Mordfall zu erlangen. Dies ist notwendig, um das erklärte Ziel des UNA, die Hintergründe, die rechten Netzwerke und Strukturen des Mordfalls sowie ggf. das Versagen der Behörden aufzudecken und dem Parlament und der breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Am 28. September gab das zuständige OLG Frankfurt/M. bekannt, dass es die Akten zum Mordfall Lübcke dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss bis auf weiteres nicht zur Verfügung stellen werde. Grund: Der Verdacht, vertrauliche Informationen könnten aus dem UNA an die Öffentlichkeit gelangen. Im Klartext: Das OLG misstraut dem gewählten hessischen Parlament.

Und das Parlament? Der Landtagspräsident verfügt ein Besuchsverbot des Landtags und seiner Einrichtungen und Ausschüsse aufgrund der Corona-Pandemie bis 31. Dezember 2020. Im Klartext: Angesichts des sich verschärfenden Infektionsgeschehens wird die Öffentlichkeit auch beim Lübcke-Untersuchungsausschuss auf nicht absehbare Zeit ausgeschlossen bleiben, und der Untersuchungsausschuss wird aufgrund fehlender Akten nur bedingt arbeitsfähig sein. Ein unbedingter Aufklärungswille sieht anders aus. 

Am 23. Februar 2012 gab die Bundeskanzlerin Angela Merkel den Hinterbliebenen der NSU-Morde das Versprechen: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und die Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck….“

Nun bleibt die Frage der Hinterbliebenen im Mordfall Walter Lübcke, seiner Ehefrau Irmgard Braun-Lübcke, seiner Söhne Christoph und Jan-Hendrik, ob das (gebrochene?) Versprechen der Bundeskanzlerin auch für sie gilt?

4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Dorothea Frank
    18. Oktober 2020 18:32

    Ich finde es sehr gut, dass du die Person Markus H. so pointiert charakterisierst. Dadurch wird das Absurde seiner Freilassung viel deutlicher als in den Berichten der Presse. Im Gedanken an Walter Lübcke und seine Familie ist eine starke Solidarität derer, die die Entscheidung des OLG Frankfurt aufs Heftigste kritisieren, nicht nur wichtig, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes “Not-wendig”.
    Die Tatsache, dass Akten, die eine grundlegende Aufklärung über die NSU Morde und darüber hinaus auch einen weiteren Aufschluss über das Netzwerk, dem sich Stefan Ernst verpflichtet fühlte, einer Einsicht verschlossen blieben, ist ein Skandal. Deshalb kann er gar nicht oft genug in der
    Öffentlichkeit erwähnt werden. Dazu leistest du einen wesentlichen Beitrag.

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  • Dr.Peter Schulze-v.Hanxleden
    15. Oktober 2020 16:55

    Gut recherchiert: Der Staat – zumindest der derzeitige in Hessen – lässt in der Tat den gebotenen Aufklärungswillen vermissen. Der Kanzlerin würde ich allerdings kein *gebrochenes Versprechen* unterstellen. Sie kann nur appellieren, nicht versprechen.

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    • Michael Lacher
      16. Oktober 2020 16:33

      Sorry, ich habe das Zitat verkürzt. Der besagte Absatz der Bundeskanzlerin, gerichtet an die Hinterbliebenen der NSU-Morde, beginnt: “Als Bundeskanzlerin verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären…” Nachzulesen in der Süddeutschen Zeitung v. 23.02.2012.

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  • Prof. Dr. Werner Ruf, Edermünde
    14. Oktober 2020 15:32

    Das ist sehr gut, perteiisch für Demokratie und Rechtsstaat und deshalb notwendig!
    Wird es Folgen haben?

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