Kassel ist schön. Kassel ist bunt. Kassel gibt sich Mühe. Kassel ist stolz. Kassel geht es gut. In Kassel geht es aufwärts: 15 Jahre, ein Viertel mehr Beschäftigte und zwei Drittel weniger Arbeitslose. Kassel freut sich.
Der Stadtkämmerer und OB Christian Geselle freut sich noch mehr: 40 Mio. € mehr als geplant im Stadtsäckel. Dem Länder-Finanzausgleich sei Dank. Die Kasseler Radler wundern sich: Es geht doch. Über 65 Mio. € bis 2025 nur für sie. Die Fahrradhändler reiben sich die Hände, das Frühjahrsgeschäft floriert. Endlich sicher mit dem E-Bike auf der Willi Allee nach Wilhelmshöhe und dem Brasselsberg.
Gibt es eine dunkle Seite der Wirtschaft in Kassel? Kassel als Industriestadt ist ein Mythos. Die Industriebeschäftigung (verarbeitendes Gewerbe) bewegt sich auf dem Niveau von 1925! Die Beschäftigung in Kassel findet zu 80% im Dienstleistungssektor statt.
45% der Beschäftigten arbeiten in Kassel in sog. atypischen Arbeitsverhältnissen (Hans-Böckler-Stiftung 2019). Das sind befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeitende, Crowdworker, Soloselbstständige, Minijobber und vieles mehr. Ich schätze, die weitaus meisten findet man im Dienstleistungssektor. Die auffälligsten Beispiele sind die Paketzusteller bei Hermes, Unterauftragnehmer von DHL, UPS usw. Sie sind häufig Soloselbstständige, die über Subfirmen der großen Logistikunternehmen eingestellt sind. Die sind wirklich schlimm dran (Ich gebe denen immer ein ordentliches Trinkgeld). Aber auch die häufig über Personaldienstleister Beschäftigte in der Gesundheitswirtschaft, vor allem Frauen in der Altenpflege, gehören in dieses prekäre Arbeitsmarktsegment
Allerdings wissen wir wenig über den Kasseler Dienstleistungssektor insgesamt. Da gibt es in der öffentlichen Verwaltung oder bei den Banken gut bezahlte Jobs mit einem sog. Normalarbeitsverhältnis. Das meint: Tarifbindung der Betriebe, Bezahlung nach Tarif, Kontrolle durch Personalräte, Aufstiegs- und Qualifizierungsmöglichkeiten etc. Aber wir wissen wenig über die Arbeitsverhältnisse im Handel oder im IT-Bereich, in der Gesundheitswirtschaft, der Logistik oder den Freiberuflern. Das müsste dringend aufgearbeitet werden.
Befristete Arbeitsverhältnisse gibt es aber auch im Öffentlich Dienst. Vor allem an der Uni. Leiharbeitende sind vor allem in der Industrie. Ich schätze, dass zwischen 30 und 40 Tausend Beschäftigte in Kassel in solchen Arbeitsverhältnissen stecken. Da findet man auch den größten Anteil des Niedriglohnsektors, der in Deutschland 21% der Beschäftigten ausmacht. Das ist nach Lettland der zweithöchste in Europa (!). Überträgt man das auf Kassel, dürften ca. 20 bis 25 Tausend Beschäftigte in diesem Sektor stecken. Dafür spricht folgendes Bild:
Kassel ist bei den Gehältern (Median ist genauer als der Durchschnitt, weil die Ausreißer nach oben und unten rausgerechnet sind) abgehängt. In Kassel wird weniger verdient, weil der Dienstleistungssektor mit seinen prekären Beschäftigungen so dominant ist: In der BRD beträgt das Einkommen 3.770 € br./Monat und in Kassel 3.246 €. Das ist zudem weniger als in Hessen insgesamt und sogar im Landkreis Kassel. . Die prekär Beschäftigten von heute sind die Armen von morgen. Für die Stadt Kassel müsste das Anlass genug sein, sich um diesen Sachverhalt zu kümmern und zumindest eine Aufarbeitung vorzunehmen.
Das Argument, die Kaufkraft in der Stadt sei aufgrund der günstigeren Preise (Mieten, Lebensmittel etc.) höher, zieht nicht, weil selbst die IHK Kassel die Kaufkraft 5% unter dem Bundesdurchschnitte angibt (vgl. Wirtschaftsförderung Kassel, Wirtschaftsdaten).
Also bleibt als Hoffnungsträger die Industrie, die es über Jahre gut hinbekommen hat. Insbesondere die Beschäftigung im Raum Kassel, hier vor allem VW in Baunatal, konnte immer gute Beschäftigung und Einkommen in Aussicht stellen – sieht man einmal von dem dunklen Kapitel des “Dieselskandals” ab. Nun beginnt es aber auch in der Kasseler Industrie zu bröckeln.
Die tolle Beschäftigungsentwicklung in Kassel basiert also aufgrund des Zuwachses im Dienstleistungssektor (+13,2%) und die Industriebeschäftigung (verarbeitendes Gewerbe) geht derweil um 2,2% zurück. Und nun kommt noch das: Die General-Electric-Tochter GE Grid Solutions will ihren Standort in der Lilienthalstraße mit 300 Beschäftigten teilweise verlagern und mit dem möglichen Verkauf der Bahnsparte von Bombardier steht auch das Kasseler Werk auf der Kippe. Das Werk mit 650 Beschäftigten plus Leiharbeitern ist aus den Henschelwerken hervorgegangen und hat eine lange Tradition mit entsprechender Kompetenz im Lokbau.
Die GE-Tochter produziert Schaltgeräte für Hochspannungstechniken und ist neben der Fertigung mit 200 Beschäftigten mit 100 Beschäftigten im Vertrieb und Service tätig. Ursprünglich war die Hochspannungstechnik aus dem 1948 gegründeten AEG-Werk ausgelagert worden, war eine zeitlang Bestandteil der französischen Konzerne Alstom SA, dann Areva und es kam anschließend zu einem Management Buy Out, bevor es von GE übernommen worden war. Das Unternehmen beschäftigte früher über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Auch diese Konzern-Tochter von GE könnte nun Opfer größerer Restrukturierungsmaßnahmen werden. Diese Maßnahmen werden weitab von der Region entschieden und können für den Kasseler Arbeitsmarkt verheerend wirken. Nichts ist sicher im globalisierten Markt.