Trümmerfeld und alte Rechnung

Volker Bouffier war von 1999 bis zum Februar 2009 Hessischer Innenminister. In diese Zeit fiel der NSU-Mord im April 2006 an Halit Yozgat und die Amtszeit des Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) in Hessen, Dr. Alexander Eisvogel. Er war Leiter der Behörde zwischen November 2006 und April 2010. Bouffier hatte ihn berufen und eingesetzt. Der Jurist Eisvogel war am 08.06.2022 als Zeuge des Lübcke-Untersuchungsausschusses (UNA 20/1) geladen und war gut vorbereitet. Heute ist er Präsident der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung. Dr. Eisvogel, zwischen 2010 und 2013 Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, ist ein deutscher Spitzenbeamter.

Mit seinem Amtsantritt 2006 beim Hessischen Verfassungsschutz fand er wohl eher ein Chaos als ein funktionierendes Organ des Rechtsstaates vor: Er traf auf 180 Mitarbeitende (heute 380) und es fehlten „operative Kapazität“, „Analysespezialisten“, „Professionalität“ und „Priorisierung“, „Aus- und Fortbildung“, „Ausbildung“ generell, „Methodik und rechtliche Grundlagenausbildung“, das „Führen“ von Mitarbeitenden war nicht erlernt, „Angelernte“ wurden von „Autodidakten“ geführt. Die verheerenden Merkmale immerhin einer nicht unwichtigen Landesbehörde ließen sich nach Angaben des Eisvogel leicht verlängern. Kurz, das LfV glich einem Trümmerfeld mit hoheitlichen Aufgaben im Interesse des „Staatswohls“, wie der damalige Innenminister immer wieder gerne hervorhob.

Dass der Rechtsextremismus eine Gefahr für die Demokratie und den Rechtsstaat schon zu diesem Zeitpunkt war, erkannte Eisvogel nach eigenen Angaben in seiner ganzen Tragweite erst nach der Aufdeckung der NSU-Morde 2011 („Wir haben den NSU nicht als Handlungsmuster erkannt“). Gleichwohl erkannte er am Ende seiner Amtszeit 2009 die Gefährlichkeit des Lübcke-Mörders Ernst und stufte ihn in einem Aktenvermerk als „brandgefährlich“ ein. Das regte aber die LfV-Mitarbeiterinnen in der Zeugenvernehmung besagter Sitzung zum damaligen Zeitpunkt nicht weiter auf. Sie behandelten Ernst und seinen Kompagnon weiter nach Schema F, vereinfachtes Verfahren (Ernst), Häkchen dran, nicht auffällig, Akte sperren (vulgo: „löschen“). Für die damals zuständigen Mitarbeiterin tauchten Hartmann und Ernst erst wieder in der Zeitung nach dem Mord an Walter Lübcke auf. Obacht: Wir reden hier vom hessischen Verfassungsschutz. Den Segen ihres Vorgehens  bekamen die LfV-Mitarbeitenden vom damaligen Innenminister Beuth (CDU) höchstpersönlich: Ernst galt als „abgekühlt“. Für Eisvogel gibt es keine „Abkühlung“ von Rechtsextremisten, weil das leitende Motiv der „Hass“ auf „Andersartigkeit“ ist, eine „Entmenschlichung“ darstellt, die ohne „professionelle Betreuung“ keine Änderung bringen wird. Mit diesem Urteil liegt er auf gleicher Linie mit dem forensischen Sachverständigen Psychiater Leygraf im Prozess gegen Ernst vor dem Oberlandesgericht Frankfurt, der Ernst „einen Hang zu schweren Straftaten“ attestierte.

Ohne es zu explizieren hat Eisvogel den damals politisch Verantwortlichen völliges Versagen bescheinigt. Ein verwahrloster Verfassungsschutz mit falschen Prioritäten („islamistischer Terrorismus“), Fehleinschätzung und Verharmlosung von potentiellen Gewalttätern (Ernst „abgekühlt“), Mitverantwortung beim NSU-Aufklärungsversagen und Schutz eines potentiellen Zeugen und LfV-Mitarbeiters (Temme) beim NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel. Das alles gehört in die Rechnung, die Eisvogel den politisch Verantwortlichen aufgetischt hat

Angesichts dieser politischen Gefechtslage wäre es vor allem vor der Landtagswahl für die Öffentlichkeit, die politischen Akteure in Hessen und im Sinne des Auftrags des UNA 20/1, nämlich das Behördenverhalten beim Mord an Walter Lübcke zu untersuchen, von Vorteil, die politisch Verantwortlichen als Zeugen zu laden. Mal sehen, ob dann der stv. CDU-Obmann Müller seine Verbalattacken und sein bis zur Grenze der Flegelhaftigkeit gezeigtes Verhalten sich traut fortzusetzen.

 

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