Und was ist mit Markus Hartmann ?
Der Dienstag des 22. Dezember 2020 wird in die Justizgeschichte eingehen: Der Oberstaatsanwalt der Bundesanwaltschaft, Dieter Killmer, hat vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. den Mord an Walter Lübcke historisch-politisch eingeordnet. Er sieht eine politische Linie des Rechtsterrorismus vom Mord an dem jüdisch-liberalen Walther Rathenau 1922, Außenminister in der Weimarer Republik, und dem liberal-konservativen Politiker Walter Lübcke. Die Staatsanwaltschaft definiert darüber hinaus die beiden Morde als “rassistisch” motiviert (man könnte hinzufügen: antisemitisch), die sich letztlich gegen eine liberale, rechtsstaatlich verfasste Republik gerichtet haben. So gesehen waren beides “politische Morde”, wie Killmer wörtlich ausführte. Ein politischer Mord an Walter Lübcke, der von einem einzelnen Täter begangen wurde, nämlich dem Angeklagten Stephan Ernst, so die begründete Vermutung der Staatsanwaltschaft, aber nur vor dem Hintergrund eines in Kassel und Nordhessen existierenden rechtsradikalen Netzwerks und einer rechtsradikalen Einstellung und Fremdenfeindlichkeit des Täters, die bis in seine Jugendzeit als 15jähriger zurückreicht. Diese Erkenntnis individueller politischer Verformung und “schizoider Persönlichkeitszüge” (so der psychiatrische Gutachter Prof. Leygraf) darf aber nicht davon ablenken, dass der Mord an Walter Lübcke erst in seinem historisch-politischen Kontext verstehbar wird.
Am 04. Juni 1922 wurde Philip Scheidemann im Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel Opfer eines Mordanschlags. Zwei rechtsradikale Mitglieder der Organisation Consul (O.C.), die auch für die Ermordung Rathenaus zeichnete, hatten versucht, den damaligen Oberbürgermeister Scheidemann mittels Blausäure ums Leben zu bringen. Der Versuch misslang.
Die O.C. war aus den Freikorps des Ersten Weltkriegs hervorgegangen, eine nationalistische und antisemitische Organisation, deren Mitglieder aus der Reichswehr stammten und später nicht selten in der schon 1920 gegründeten sog. Sturmabteilung (SA) aufgingen. Letztlich waren diese paramilitärischen Einheiten Schlägertruppen der NSDAP auch in Kassel, die für zahlreiche Morde und Folterungen in den berüchtigten Bürgersälen in der Oberen Karlstraße sowie im sog. Adolf-Hitler-Haus in der Wilhelmshöhe Allee verantwortlich waren. Die Opfer waren politische Gegner aus allen demokratischen Parteien und Organisationen dieser Zeit. Sie waren auch Opfer politischer Morde.
Der Anlass des politischen Mordes an Walter Lübcke am 01. Juni 2019 war, wie vielfach dargestellt, eine öffentliche Bürgerersammlung am 14. Oktober 2015 in Lohfelden, an der Lübcke sich unmissverständlich positiv für die Aufnahme von Geflüchteten aussprach und damit für Ernst und Hartmann zum politischen Hassobjekt wurde. Die groteske Furcht vor “Überfremdung”, einer “Umvolkung Deutschlands” und dem vermeintlichen Rechtsbruch der Kanzlerin durch die unkontrollierte Zuwanderung Geflüchteter fußte auf einem nationalistischen Weltbild der Angeklagten, das laut den Vernehmungsaussagen von Ernst vom 25. Juni 2019 zu der praktischen Konsequenz eines “Bürgerkriegs”, einer “Bewaffnung”, einer Vorbereitung “auf den Tag” des Losschlagens führen müsse. Diese faschistische Gedankenwelt beider Angeklagten, Ernst und Hartmann, ist indes nicht erst Ergebnis der vermehrten Zuwanderung Geflüchteter nach 2015, sondern hatte seine systematische Anlage in den Beteiligungen, zumindest von Hartmann, an rechtsterroristischen Organisationen, die schon in den 1970er Jahren entstanden waren.
Die 1979 gegründete Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) war bis zu ihrem Verbot 1995 eine offen nazistische Partei, die von einem ehemaligen Führungsmitglied im Hessischen NSU-Untersuchungsausschuss (UNA 19/2, S.184) als “reine Kopie der NSDAP” charakterisiert wurde, mit “Parteiuniform”, “schwarze(r) Hose”, “Braunhemd”, “das Programm war rein nationalsozialistisch”, ” Hakenkreuze (waren) überhaupt kein Tabu, Hitler-Büsten. Das war eine reine Nazitruppe”. Markus Hartmann war schon Anfang der 1990er Jahre als vielleicht 16 oder 17jähriger für die FAP unterwegs. Er verprügelte mit seinen FAP-Kameraden in Ihringshausen an einer Bushaltstelle einen Jugendlichen, war durch das laute Abspielen von Hitler-Reden, rechtsradikaler Musik bekannt und sammelte eifrig Waffen. Nach Ansicht seiner ehem. Lebensgefährtin ist er “narzistisch”, hat “psychopathische Anteile”, ist “manipulativ”, “einer, der grinsend daneben steht.” Markus Hartmann war zudem Mitglied in der 2011 verbotenen Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene (HNG), in den Nullerjahren in der Kameradschaft “Freier Widerstand Kassel”, in der der Ernst-Freund und NPD-Aktivist Mike Sawallich das Sagen hatte. Spätestens hier dürfte Hartmann den Kontakt zu einem der Größen des regionalen und überregionalen, gewalttätigen Nazismus kennengelernt haben, nämlich den in Fretterode im thüringischen Eichsfeld, in der Nachbarschaft von Björn Höcke (AfD-Landesvorsitztender Thüringen) lebenden NPD-Vize Thorsten Heise. Er organisiert die Rechtsrockkonzerte “Schild und Schwert” und organisiert die “Arische Bruderschaft” mit.
Mit Heise dürfte Hartmann seine politische Heimat in dem völkisch-militanten Flügel der NPD, der von Heise vertreten wird, (zumindest ideologisch) gefunden haben. Mit Heise, der auch Mitglied der nazistischen FAP war, ist die große Linie bis hin zur NSDAP und noch weiter zurück in die frühen 1920er Jahre zu den rechtsterroristischen Freikorps zu ziehen. In dieser Tradition liegen auch die politischen Morde und Mordversuche, in die die Stadt Kassel auf tragische Weise involviert ist und die sogar von einem ihrer Bürger, nämlich Hartmann, maßgeblich mitverantwortet werden. So kann man jedenfalls das Plädoyer des Oberstaatsanwalts Dieter Killmer verstehen, der Hartmann Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke sowie Verstöße gegen das Waffengesetz vorwirft. Nach Ansicht der ehem. Lebensgefährtin von Hartmann war er in die Pläne des mutmaßlichen Mörders Stephan Ernst eingeweiht. Dass angesichts seiner vielfältigen Vergehen er nicht ein einziges Mal verurteilt worden ist, dürfte auf der einen Seite mit der laschen Handhabung der deutschen Justiz bei Vergehen von Rechtsradikalen und auf der anderen Seite mit der Schlauheit des Delinquenten zu tun haben. Dabei ist in der Öffentlichkeit über den Rechtsradikalen Hartmann vergleichsweise wenig bekannt. In der Kasseler Nordstadt mit einem Hauptschulabschluss zur Schule gegangen, eine Bäckerlehre mit anschließender Berufsaufbauschule und einem mittleren Bildungsabschluss absolviert, die Fachhochschulreife erlangt, eine Umschulung bei der VW-Coaching GmbH (heute VW-Akademie) zum Industriemechaniker erfolgreich abgeschlossen und schließlich bei der Firma Hübner in Kassel ab 2011 als Industriemechaniker gearbeitet. Hartmann hat einen Bildungsaufstieg zum Facharbeiter in einem renommierten Kasseler Unternehmen hingelegt und hätte auch, zumindest auf der Grundlage seiner formalen Bildungsabschlüsse, an der Universität Kassel studieren können. Er ist ein rechtsradikaler Schläger mit Abitur und Aufstiegsambitionen, mit einer Schlauheit ausgestattet, die ihn immer “grinsend daneben stehen” lassen hat, handwerklich geschickt für den Waffenbau, kulturell zynisch verroht mit einem Zyklon-B-Becher auf dem Schreibtisch, eigenbrötlerisch und trotzdem gut vernetzt in der regionalen Neonaziszene, mit einem immer währenden Wohnort Kassel. Hartmann hat sich nicht weg getraut. Hartman hat sich auch nicht getraut, seinen Bildungsaufstieg fortzusetzen. Hartmann ist ein ängstlicher und labiler Mensch, man könnte auch sagen: Hartmann ist eine rechtsradikale Flasche. Er hat sich schadlos gehalten und andere morden lassen. Nun hat er sich unter den Schirm seiner Nazi-Anwälte begeben.
Hartmann hat während der 40 Prozesstage am Oberlandesgericht im Großen und Ganzen geschwiegen und seine rechten Anwälte Clemens und Schneiders sprechen lassen. Diese Strategie hat sich in den NSU-Prozessen für den Angeklagten Eminger bewährt. Er wurde unter dem höhnischen Gejohle seiner rechtsradikalen Gesinnungsgenossen freigelassen. Dies soll nach dem Willen des Oberstaatsanwalts Dieter Killmer am 26. Januar 2021 mit der Urteilsverkündung nicht geschehen. Er forderte am 22. Dezember 2020 wegen Beihilfe zum Mord und Vergehen gegen das Waffengesetz 9 Jahre und 8 Monate Haft für Markus Hartmann. Zudem forderte er sofortige Haftvollstreckung zur Untersuchungshaft. Hartmann ist ohne festen Wohnsitz und ohne Arbeit. Es besteht Fluchtgefahr.
Am Ende des Prozesstages verabschiedete der Richter Sagebiel die Prozessbeteiligten, ohne auf die Forderung der Bundesanwaltschaft einzugehen. Hartmann machte wie schon am ersten Prozesstag einen gelösten Eindruck und grinste wie gewohnt. Die gute Laune könnte ihm allerdings die Kasseler Stadtpolitik verhageln, wenn sie ihm seine Waffenbesitzkarte entziehen würde. Das wäre doch ein guter Start ins Jahr 2021. Freuen wir uns drauf.
6 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Gute Arbeit! Teile alle Einschätzungen uneingeschränkt!
Danke Michael! So sehr Gerichte Beweisführung für den jeweiligen ‘Einzelfall’ suchen müssen und ‘Schweigen, Grinsen und Gejohle von Gesinnungsgenossen’ dafür nicht ausreichen, erwartet man jetzt, nach der Einordnung durch den Antrag der Bundesanwaltschaft, vom Urteil eine historische politische Einordnung sowohl des Mit-Angeklagten, seiner Verstrickungen in z.T. inzwischen verbotene Nazi-Netzwerke und -Organisationen, wie auch in die von Dir beschriebene historische Verantwortung. Ich werde Deinen Artikel soweit mir möglich weiterverbreiten!
Dieser Text ist so wichtig! Vor allem muss er auch politisch etwas bewirken. Wir sollten versuchen, ihn in eine Zeitung – möglichst überregional zu bringen
Ausgezeichneter Artikel! Sehr Informativ
Vielen Dank für die Hintergrundinformationen!
Mögen die braunen Brüder und Schwestern so effektiv wie möglich an ihrem unseligen Tun gehindert werden!
“Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.” (B.B.)
Ausgezeichnet, michael! Gruss Thomas bis bald