Was heute wichtig ist in Deutschland…

Eva Menasse, die österreichische Schriftstellerin mit einem jüdischen Vater, schreibt im Zuge der Antisemitismusdebatte zur Documenta Fifteen im Spiegel Nr. 27 v. 12.07.2022, dass sie  „mehr Angst“ .. „vor denen (habe), die Walter Lübcke auf seiner Veranda erschießen oder versuchen, mit einer Maschinenpistole in eine voll besetzte Synagoge einzudringen“, „als vor 20 Jahre alten antisemitischen Karikaturen aus Indonesien“ und „auch nicht vor denen, die sie gewebt oder gemalt haben.“

Den deutschen Presseorganen und der häufig hochgelobten Qualitätspresse geht es (mit der Ausnahme des Hessischen Rundfunks) anders. Sie interessieren sich nicht mehr für den Mord an Walter Lübcke und der behördlich-politischen Verantwortung. Auf den Presseplätzen des Hessischen Landtags war in dem Lübcke-Untersuchungsausschuss (UNA) am Freitag, den 01.07.2022 gähnende Leere. Für die deutsche Qualitätspresse ist der erste politische Mord durch einen Rechtsextremisten nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr eine Meldung wert. Da stellt sich denn doch die Frage, ob das nicht auch im Sinne der politisch (Mit)Verantwortlichen ist, die in der fraglichen Sitzung einen handfesten Eklat ertragen mussten.

Die sog. P(ersonal)-Akte von Stephan Ernst sollte am 15.06.2015 „intern gelöscht“ werden. So der Begriff der Verwaltung zur Sperrung einer Akte ohne Zugriffsmöglichkeit zur weiteren „operative Bearbeitung“ durch die LfV-Mitarbeiter*innen. Das Verfahren muss man sich so vorstellen:  Die Akte des späteren Mörders Ernst lag also auf dem Schreibtisch der LfV-Mitarbeiterin, die im Schnelldurchlauf („Listensperrverfahren“ – noch so ein Bürokratenbegriff) nach fünf Jahren Liegezeit die P-Akte prüfte und für unbedenklich erklärte, also „intern gelöscht“ werden konnte. Aber: Das Vier-Augen-Prinzip verbot eine einsame Entscheidung, d.h. ein zweite Mitarbeiterin prüfte die Akte abermals und kam zu einem anderen Schluss:  Der Ernst ist „brandgefährlich“ (so schon Jahre vorher der Präsident des LfV), der Ernst hat „Gewaltpotenzial“ (das war aus den Akten bekannt) und dann kam ein entscheidender Hinweis: Ein Kollege des LfV hat sich „geärgert“, so die Zeugin – sie arbeitet mittlerweile in der Verwaltung der Berliner Innensenatorin – und „Unverständnis“ zur Löschung der Akte geäußert. Daraufhin hat die Zeugin mit einem handschriftlichen Sichtvermerk ihren „Senf dazu gegeben“, wie sie sagte. Heißt: Aus ihrer Sicht sollte die Akte nicht gesperrt werden, sondern für weitere operative Ermittlungen des LfV zur Verfügung stehen. Aber: Die Akte wurde trotzdem gesperrt und der Sichtvermerk der damaligen LfV-Mitarbeiterin ist nunmehr verschwunden. Das heißt, dem Untersuchungsausschuss liegen in diesem brisanten Detail keine vollständigen Akten vor und der kritische LfV-Mitarbeiter war bis dahin dem UNA nicht bekannt. Das ist ein Hammer. Der Mörder Walter Lübckes, Stephan Ernst, wäre bei Nicht-Sperrung seiner Akte weiter auf dem Radar des LfV geblieben, und sein mörderischer Handlungsspielraum wäre im besten Falle erheblich eingeschränkt gewesen.

Zurecht haben dies die oppositionellen Obleute des UNA, namentlich Günter Rudolph von der SPD, auf die Palme gebracht. Es folgte am Freitag die Unterbrechung der öffentlichen Sitzung. Eine halbstündige, nicht-öffentliche Sitzung mit den Obleuten und ihren sicherheitsüberprüften Mitarbeiter*innen folgte mit dem Ergebnis des Abbruchs der öffentlichen UNA-Sitzung. Nun wird nach den verschwundenen Hinweisen der damaligen LfV-Mitarbeiterin geforscht und versucht, den aufmerksamen und kritischen LfV-Mitarbeiter ausfindig zu machen. Das dürfte einer der wichtigen Zeugen in einer der nächsten UNA-Sitzungen werden.

Dieser Vorfall ist nunmehr das dritte Moment politisch gedeckten (Ernst ist „abgekühlt“, so noch 2019 der heutige Innenminister Beuth) behördlich praktizierten Versagens:

  • Mit dem Mord an Halit Yozgat 2006 und der NSU-Aufdeckung 2011 erfolgte keine „Zerschlagung“ des nordhessischen Nazinetzwerks;
  • dem Mordversuch an Ahmed I. wurde unzureichend nachgegangen;
  • und jetzt: kritische Einschätzungen aus dem LfV heraus zum späteren Mörder Ernst wurden ignoriert.

Es bleibt nun die aktuelle Aufgabe des UNA herauszufinden, ob der Aktenvermerk bewusst unterdrückt wurde, gar auf politische Anweisung erfolgte oder einmal mehr nur auf Schlamperei innerhalb des LfV zurückzuführen ist.

Erstaunlich bleibt gleichwohl, dass der Rechtsextremismus „als größte Gefahr für die Menschen im Land“ (Nancy Faeser) bei der deutschen Presse keine größere Rolle mehr zu spielen scheint. Die „paar (antisemitischen) Männchen auf einem neunmal zwölf Meter großen Wimmelbild“ (Menasse) scheinen der Erregungsökonomie der Presse mehr Stoff zu geben, als die Aufklärung eines politischen Mordes eines Rechtsextremisten aus Deutschland. Eine deutsche Geschichte im 21.Jahrhundert.

5 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • willy egli
    6. Juli 2022 8:01

    ich wundere mich schon lange! immer wieder!, wer und was es in die Schlagzeilen schafft???

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  • Dieter Seidel
    4. Juli 2022 8:40

    Bei mir wechseln sich Zorn und Beklemmung ab. All das ist ungeheuerlich! Ich glaube hier auch nicht, dass das schludriges Arbeiten des Landesamtes für Verfassungsschutz ist, sondern pure Absicht. Aufzuklären ist das „wieso“!

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  • Werner Ruf
    3. Juli 2022 15:33

    Ist vielleicht die Dokumenta-Hysterie ein willkommenes Ablenkungsmanöver gegenüber der rechtsradikalen Realität in unserem Lande? Zugleich beanspruchen wir das Recht, die grausige koloniale und neokoloniale Geschichte der ausgebeuteten Völker des Südens umzuschreiben!

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  • Aßmann werner
    3. Juli 2022 14:06

    Moin. Ein sehr aufklärerische Bericht der mit guten Vergleichen zum Eklat bei der documenta. Weiter so!

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  • Dem Furor des Kommentars ist nichts hinzuzufügen.

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