Grün-Roter Koalitionsvertrag: Der Zukunft zugewandt – auch den Fakten?

Das Wesentliche vorweg: Nun hat eine neue Generation von Kommunalpolitiker*innen das (konzeptionelle) Heft für die Stadt Kassel in die Hand genommen und ein (kompliziertes) System von Regelungen und Verfahren der Zusammenarbeit geschaffen, die das gegenseitige Misstrauen aus der Vergangenheit (hoffentlich) in der Lage ist, in Schach zu halten. Das Koalitionspapier von Bündnis 80/Die Grünen und SPD beabsichtigt, eine gute Grundlage zur „Stärkung des Zusammenhalts in der Stadtgesellschaft“, so in der Präambel des 50 Seiten starken Papiers, zu werden. Die lauteren Absichten der Koalitionäre*innen und Ersteller*innen des Papiers schimmern durch alle 8 Abschnitten. Die junge Generation übernimmt das Kommando. Gut so!

Jung, kraftvoll und der Zukunft zugewandt: Dabei können Fakten helfen! Nicht nur bei den Verhandlungen um den Abschnitt „Wirtschaft.“ Ein Blick in die stadteigenen Statistiken wäre hilfreich gewesen, um Leitlinien für eine bessere wirtschaftliche Zukunft der Stadt zu entwerfen. 

„Gute Arbeit“, „zukunftssichere Arbeitsplätze“ als Ziel wirtschaftspolitischer Maßnahmen Kassels muss folgendes berücksichtigen: Kassel als Industriestadt ist beschäftigungsseitig ein Mythos. Ca. 80% der Gesamtbeschäftigung Kassels ist im Dienstleistungssektor angesiedelt. Das sind knapp 90.000 Beschäftigte. Überträgt man die bundesdeutschen Zahlen auf Kassel, dann sind zwischen 15.000 und 20.000 Beschäftigte im Niedriglohnsektor zu finden. Das sind geringfügig Beschäftigte, Crowd- und Clickworker, Zusteller*innen, Minijobber, Soloselbstständige u.v.m. Hier sind vor allem Frauen betroffen. Das umfasst noch nicht einmal die atypisch Beschäftigten mit unsicheren Arbeitsverhältnissen z.B. befristet Beschäftigte. 

Wahr ist allerdings auch, dass es in Kassel kaum gesicherte Kenntnisse über die Beschäftigungsstruktur im Dienstleistungssektor gibt. Das wäre doch eine Herausforderung für die Koalition hier Abhilfe zu schaffen!?

Und dann schafft die Coronakrise ihre eigene Realität: Ende 2020 meldete die IHK, dass 11% der Betriebe in Nordhessen mit einer Insolvenz und über 35% mit Personaleinsparungen rechnen. In Kassel dürfte das vor allem den Dienstleistungssektor treffen. Der Brennpunkt der Beschäftigung wird in den nächsten Jahren der private Dienstleistungssektor sein. Hierzu sollte sich die Koalition äußern.

Vor diesem Hintergrund sind noch nicht einmal die zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen „Baustellen“ der Stadt wie die überproportional hohe Arbeitslosigkeit, die im Vergleich niedrige Einkommensstruktur und Kaufkraft, die hohe Überschuldung und die soziale Spaltung der Kasseler Stadtteile (vgl. mein Blogeintrag vom 26. Februar 2021 „Kommunalwahl 2021“https://michael-lacher.de/kommunalwahl-2021)genannt. Sämtliche Themen gehören zu einer seriösen Bestandsaufnahme politischer Handlungsoptionen der Stadt.

Die Stadtverordnetenversammlung hat im November 2019 die Einrichtung eines Klimaschutzrates beschlossen. Eine gute Entscheidung, die einen Beitrag zur Klimaneutralität der Stadt sichern helfen soll. Ich empfehle als Maßnahme der künftigen Koalition einen Wirtschafts- und Sozialrat einzurichten, der die Stadtpolitik in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragestellungen beraten, die Maßnahmen des Klimaschutzrates im Sinne einer Klimagerechtigkeit in wirtschafts- und sozialpolitscher Hinsicht ergänzen und Handlungsstrategien zur Eindämmung der sozialen Ungleichheit in der Stadt entwickeln kann. Das wäre dann ein konkreter Beitrag zur „Stärkung des Zusammenhalts in der Stadtgesellschaft.“

3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Aßmann. Werner
    16. Juni 2021 12:58

    Moin neben dem Klimaschutz gibt es den sozialen Sprenkstoff in unserer Heimatstadt Kassel, Da schlummert gewaltiges was uns eines Tages um die Ohren fliegen wird. Ich unterstütze deshalb aufs schärfste den Vorstoß von Michael Lacher! Ich wäre bereit als Verdi Vorsitzender Senioren mit zu arbeiten!

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  • Dr.Peter Schulze-v.Hanxleden
    16. Juni 2021 11:57

    Die Einrichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates wäre in der Tat sehr notwendig, aber auch die eines “Verkehrsrates” sinnvoll, damit zu einseitige Festlegungen im jetzt “grün” dominierten Kassel vermieden werden.

    Antworten
  • Horst Paul Kuhley
    16. Juni 2021 11:37

    Sehr ausgewogen. Aber werden die Angesprochenen einen Rat beherzigen?

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